Birte Müller

Birte mit ihrem Sohn Willi

Therapieterror

Wächst Gras wirklich schneller, wenn man daran zieht? Eines ist sicher — wenn man zu stark zieht, reißt es ab! 

Wer ein Kind mit Down-Syndrom (oder einer anderen Behinderung) bekommt, hört am Anfang oft dieselben Phrasen. Neben „Solche Kinder sind aber echte Sonnenscheine“ hörte ich nach Willis Geburt sinngemäß mindestens genauso häufig „Solche Kinder können heute ja so viel lernen“ – aber alles natürlich nur bei guter Förderung. 

Ich nahm meine Rolle als persönliche Entwicklungs-Managerin meines Kindes sofort an, ja ich war sogar froh, das Gefühl zu haben, dass ich etwas tun konnte und der Situation, ein behindertes Kind bekommen zu haben, nicht machtlos gegenüber stand. Ich war fest entschlossen, mein Kind maximal zu fördern und der Welt bald den Vorzeigebehinderten zu präsentieren – seht alle her, was man erreichen kann: So fit kann heute ein Kind mit Down-Syndrom werden! Ich war fest entschlossen, gegen die Behinderung an zu therapieren, sie wo immer möglich auszugleichen. Wenn ich mich genug anstrengen würde und einfach doppelt so viel mit Willi üben würde, müssten rein rechnerisch die 50 Prozent langsamere Entwicklung aufgehoben werden können.

Aber schon meine erste Erfahrung mit Therapie ließ mich an der Umsetzbarkeit meines Vorhabens zweifeln: Krankengymnastik nach Vojta. 

Willi war erst ein paar Wochen alt und litt unter schweren gesundheitlichen Komplikationen. Wir lebten im Krankenhaus und es tauchte eine Physiotherapeutin auf, um mit Willi zu „vojtern“. Ich fürchte, der tschechische Arzt, der sich diese Therapie ausgedacht hat, muss ein Sadist gewesen sein! Man legt das entkleidete Kind vor sich hin, fixiert es in einer bestimmten Stellung durch einen Haltegriff, um es dann unter Tränen (von Mutter und Kind) durch das Drücken spezieller Punkte in ein Bewegungsmuster zu zwingen. Der Ausdruck „mit dem Kind vojtern“ ist also eigentlich falsch, denn das Kind wird gevojtert!

Das Ganze sollte ich mit Willi drei- bis viermal täglich machen. Laut Therapeutin weint das Kind dabei nicht aus Schmerz, sondern nur aus Wut oder aufgrund der großen Anstrengung. Für mich (und wahrscheinlich auch für Willi) war diese Prozedur ein Graus, aber ich wollte das Beste für mein Kind tun und man versprach mir, er würde so seine Muskulatur stärken und selbst Trinken lernen – also versuchte ich es.

Fast täglich kam die Therapeutin und leitete mich an. So oft es möglich war, zog ich mein krankes, winziges Baby aus und quälte es dort unter der Wärmelampe auf einer Wickelunterlage. So oft wie möglich bedeutete, wenn ich nicht gerade mit Willi inhalierte oder erfolglos versuchte, ihn ewig zu stillen, ihn sondierte oder meine Muttermilch abpumpte oder Willis Trachealsekret absaugte, Stomapflege machte oder ihm Medikamente gab oder stundenlang mit ihm auf einem Krankenhausflur herumsaß und auf eine Untersuchung wartete.

Ich hatte kein Gefühl dafür, was gut für mich oder mein Kind war. Heute denke ich, dass es kein Argument gewesen ist, dass Willi bei der Therapie angeblich keine Schmerzen gehabt haben soll, denn „nur Wut“ auf seine eigene Mutter zu empfinden, kommt mir nicht viel besser vor als Schmerz. Das Vojta-Turnen war auf jeden Fall ein großer Baustein der vielen Dinge, die mich gleich am Anfang meiner Zeit mit Willi langsam, aber sicher in eine Überlastungsdepression führten. 

Wenn mein Mann zu uns ins Krankenhaus kam, hatte er den natürlichen Wunsch, einfach bei uns zu sitzen und sein Kind und seine Frau in den Armen zu halten. Von Vojta-Griffen und Inhalationsgeräten wollte er nichts wissen. Ich war frustriert und fühlte mich mit der Verantwortung für Willi allein gelassen. Ich habe es an keinem einzigen Tag geschafft, dreimal mit Willi zu vojtern und ich hatte große Schuldgefühle.

Als wir nach vielen Monaten das Krankenhaus endlich phasenweise verließen, musste Willi noch immer durch eine Magensonde ernährt werden – trotz Vojta. Die erste Therapeutin, die zu uns nach Haus kam (von der Stillberaterin, die uns Stillen und zusätzliches Saugtraining im Drei-Stunden-Takt für Willi verordnete, einmal abgesehen), war eine Castillo-Morales-Therapeutin. 

Diese, in Argentinien entwickelte Therapie, soll durch Vibration die schlaffe Muskulatur stimulieren. Damit sollten Willis Trinkschwäche und sein schlechter Mundschluss verbessert werden. Die Therapeutin massierte Willi immer fleißig die Füße – weil der Mund und die Füße angeblich ganz eng zusammengehören. Das Ganze läuft unter Krankengymnastik und wird zum Glück brav von der Kasse bezahlt. Ich finde Fußmassage ist eine schöne Sache, aber dass die Zungenmuskulatur meines Sohnes dadurch angeregt wurde, erschien mir eher unwahrscheinlich. Und selbst wenn, hatte ich die Befürchtung, dass fünf Minuten Fußmassage in der Woche vielleicht nicht so viel bringen würde – aber es konnte sicher auch nicht schaden. 

An diesem Punkt kommen natürlich wir Eltern ins Spiel, denn es war ja an uns, die Massage- und Vibrationstechnik zu lernen, zu üben und täglich dreimal 15 Minuten Willis Gesicht und Füße zu vibrieren und massieren – zusätzlich zum Vojtern, was ich aber auch schon nicht schaffte.

Damit mein Mann, ohne großartig das Zittern mit den Händen zu üben, auch aktiv zu Willis Wohlergehen beitragen konnte, brachte uns die Therapeutin einen kleinen Vibrator mit (der nicht aus dem Therapiebedarf, sondern von Beate Uhse stammte). Ich denke nicht, dass mein Mann das Ding jemals in die Hand genommen hat, außer um damit herumzualbern. Willi hatte mittlerweile schon eine amtliche Abneigung gegen jegliche Fummelei in seinem Gesicht entwickelt und wenigstens sein Papa respektierte das und ließ ihn in Ruhe.

Bei der Therapeutin lag Willi oft wie ein Engel im Arm und schien die Behandlung zu genießen – von mir wollte er sich aber nicht mehr im Gesicht berühren lassen. Wahrscheinlich konnte sie es einfach besser, denn für irgendetwas muss die jahrelange Ausbildung zur Physiotherapeutin ja auch gut sein. Man kann nicht erwarten, dass eine Mutter das in wenigen Stunden lernt. Aber ich erwartete das natürlich von mir.

Und ob das Vibrieren tatsächlich etwas bringt, werde ich wohl auch nie herausfinden, denn ich habe es nicht einmal eine Woche in unserem Leben wirklich durchgezogen und hatte deswegen selbstverständlich durchgängig ein noch größeres schlechtes Gewissen.

Je mehr verschiedene Therapeutinnen und Therapeuten seitdem in unser Haus gekommen sind, umso mehr Ideen haben diese Leute gehabt, was mein Mann und ich alles mit unserem Sohn machen sollten, um ihn optimal zu fördern. Wäre ich all diesen Anweisungen nachgekommen, hätte ich mein Kind von morgens bis abends nur noch therapiert (und nebenbei natürlich Hörgeräte, Gaumenplatten und Brillen ein- und aufgesetzt, wenn wir nicht gerade inhalierten, ich stillte, abpumpte und Saugtraining machte). 

Langsam, nach dem ersten Burnout, wuchs in mir das Bewusstsein, dass ich Willis Mama sein wollte und nicht seine Therapeutin und dass diese ganzen Mutmaßungen, was für meinen Sohn angeblich gut sei, für mich ganz und gar nicht gut waren, denn sie lösten permanente Selbstvorwürfe in mir aus, weil ich ja gar nicht alles tun konnte, was ich tun sollte. Oder strengte ich mich doch nicht genug an?

Mein Mann machte es besser. Er vermied es grundsätzlich, bei den Therapiesitzungen dabei zu sein und betrachtete sie eher als 30-Minuten-Babysitting, in denen er endlich einmal in Ruhe einen Kaffee trinken konnte. Wenn ich ihn dazu drängte, einer Therapie beizuwohnen, schaltete er währenddessen einfach ab. Nach einer Einheit bei Willis Sensorischer Integrationstherapie (und ich weiß bis heute nicht, was das eigentlich genau ist), zu der ich meinen Mann nötigte, fragte ich ihn, ob er denn nun auch einmal ein paar Sandsäckchen auf Willi festbinden würde. Er wusste gar nicht, wovon ich redete! 

Stattdessen ärgerte er sich einige Wochen später beim Putzen über diese (von mir in mühevoller abendlicher Arbeit genähten) ewig rieselnden Sandsäckchen und schmiss sie kurzerhand in den Müll.

Er hatte es einfach nicht – dieses dauerhaft schlechte Gewissen, nur weil er nicht permanent an Willi herumtherapierte. Er vergaß jeglichen Therapiekram einfach sofort wieder, er nahm sich gar nicht erst vor, es zu versuchen, wohl weil er das alles eben für komplett überflüssig hält. Auf diese Weise konnte er nicht – so wie ich – ständig versagen und nahm sich seine Auszeiten, während ich völlig verlernte, Pausen zu machen.

Ich hatte das Gefühl, mich doppelt anstrengen zu müssen, da ich ja allein für Willis Förderung zuständig war. Mich nervte es unendlich, dass ich die ganze Zeit daran dachte, was nicht alles für Willi gut sei – und mein Mann konnte einfach so durchs Leben gehen, ohne sich weiter Gedanken zu machen. Deswegen machte ich es mir wohl zum zweifelhaften Ziel, meinem Mann, wenn er mir schon nicht beim Therapieren helfen wollte, wenigstens auch ein schlechtes Gewissen zu machen. Mit Erfolg übrigens! Allerdings hatte er es nie Willi, sondern immer nur mir gegenüber. 

Ich bin, vielleicht (wie jede Mutter) anfälliger für Schuldgefühle. Aber ich fürchte, Mütter behinderter Kinder leiden darunter noch mehr als die Normalo-Mütter. Ich sah mich einem ständigen Druck ausgesetzt, weil mein Sohn „schlecht entwickelt“ war, und ich bei ihm vielleicht hätte „mehr erreichen“ können – bei mehr Anstrengung. Aber dass jedes Kind ein Recht darauf hat, auch unbeschwerte, freie Zeit zu genießen, ohne ständig gefordert zu werden, war mir damals noch nicht klar.

Da mein Mann in Sachen Therapie nicht bereit war, von mir zu lernen, versuchte ich im Gegenzug von ihm zu lernen, mir Auszeiten zu nehmen und auf mich zu achten – und das ebenfalls zuerst nur mit mäßigem Erfolg. Aber wenigstens lernte ich langsam auf mein neues Bauchgefühl zu hören, und wollte von meiner Therapieverkrampfung selbst herunter kommen. Der ewige Konflikt war nicht gut für unsere Ehe und vor allem: Es war nicht gut für das Verhältnis zwischen Willi und mir! Durch meine ständigen therapeutischen Hintergedanken konnte ich fast nie einfach nur einmal mit meinem Kind zusammen sein, ohne etwas von ihm zu wollen. Mein Mann hatte es viel einfacher. Er konnte immer einfach mit Willi toben und spielen, sprechen und singen (oder es lassen), ohne dabei alles richtig machen zu wollen (außer natürlich ich stand daneben und verdarb ihnen den Spaß durch meine verspannten „Tipps“, wie er es besser machen könnte). Und wenn ich die beiden beobachte, dann sah ich, dass Willi in seiner Begeisterung dort genau das alles tat, was unsere Bobath-Therapeutin so krampfhaft erreichen wollte. 

Dann kam die Geburt unseres zweiten Kindes und es waren letztendlich meine Erschöpfung und Überforderung, die dazu führten, dass ich alle Therapien in die Hände des heilpädagogischen Kindergartens legte. Erst durch diesen Abstand erkannte ich die Skurrilität vieler Therapien. Damals begann die Logopädin in der Kita mit der sogenannten ganzheitlichen Sprachtherapie nach Padovan (diesmal ist es eine Brasilianerin, die sich das Ganze ausgedacht hat). Es geht um „neurofunktionelle Reorganisation“ – alle Entwicklungsstufen ab dem Säuglingsalter sollen erneut durchlaufen werden und die Übungen entsprechen angeblich dem Ablauf der menschlichen Entwicklungsprozesse.

Die Logopädin lud mich zu einem Gespräch in den Kindergarten ein und zeigte mir die Übungen, die ich mit Willi zu Hause machen sollte. Er musste dabei wie ein Baby auf dem Rücken liegen (da ging das Problem schon los) und ich sollte seine Beine in bestimmter Weise in bestimmten Winkeln in bestimmte Richtungen bewegen (so wurde wohl die Strampelphase nachgeholt). Dazu spricht man Verse oder singt Lieder (musste man aber ohnehin machen, sonst wäre Willi nicht eine Sekunde auf dem Rücken liegen geblieben). Ich schwöre, ich war motiviert und wollte die Technik lernen, denn ich wollte doch ALLES dafür tun, dass mein Sohn sprechen lernt. Ich ließ mir die ersten zwei Übungen von der Logopädin zeigen – mit dem festen Vorsatz, die Sache durchzuziehen. (Meinen Mann hatte ich übrigens gezwungen mitzukommen; er saß im Gespräch neben mir, den Blick auf unendlich gestellt – offline).

Obwohl die Therapie sehr wundersam klang, war ich ihr gegenüber schon deswegen nicht abgeneigt, weil das Schaukeln in der Hängematte ein wichtiger Teil davon ist. Das fand ich prima, denn wir schaukeln und singen bei jeder Gelegenheit mit Willi in der Hängematte auf der Terrasse. Das wäre auch für meinen Mann die ideale Chance gewesen, sich endlich einmal ohne großen Aufwand einzubringen. Aber als ich dann erfuhr, dass man die Übungen alle in einer bestimmten festgelegten Reihenfolge machen muss – also erst vorwärts schaukeln, dann seitwärts schaukeln, dann die erste Beinübung und dann die zweite Beinübung, da es sonst gar nichts bringe –, da hatte ich schon wieder genug von der Sache. Ich sah mich schon als die ultimative Spaßverderberin ständig aus der Küche rufen: „Matthias, denk daran, erst den Willi vorwärts schaukeln! Matthias, du schaukelst schon wieder die ganze Zeit nur seitwärts! Matthias, jetzt ist aber Zeit für die erste Beinübung!“ 

Padovan musste die Logopädin dann leider ohne uns machen. Ich glaubte einfach nicht daran, dass der Nutzen größer gewesen wäre als der Stress – und wegen Willis Widerstands gab auch sie bald auf. Ich bin ganz sicher, dass es Kinder gibt, für die Padovan oder Vojta super ist. Aber das sind Kinder, die diese Berührungen und Bewegungen zulassen. Immer wieder lese ich in der Down-Syndrom-Mailingliste von Eltern, die mit ihren – natürlich super gut entwickelten – Kindern angeblich jeden Tag 45 Minuten Übungen machen. Mir ist es ein absolutes Rätsel, wie sie das schaffen! Mir stellt sich immer wieder die Frage: Sind die Kinder so fit, weil die Eltern so viel Therapie mit ihnen machen, oder kann man nur die fitten Kindern überhaupt so viel therapieren? 

Wenn ich in der Down-Syndrom-Mailingliste lese, dass einige selbstverständlich mit ihren Kindern – seit diese fünf Monate alt sind – jährlich nach „Baiersbronn“ fahren, dann stockt mir der Atem. Erst einmal weiß ich nicht einmal, was „Baiersbronn“ genau ist, und außerdem sind Reisen mit meinem Sohn so unvorstellbar stressig, dass ich allein schon deswegen nicht auf Sprachheilrehabilitation fahren könnte.

Ich versuche von meinem Mann zu lernen und nehme mir möglichst nur noch die Vorschläge zu Herzen, die uns entgegenkommen. Zum Beispiel riet man uns, Willi so viel wie möglich barfuß laufen zu lassen. So würde seine Selbstwahrnehmung verbessert und sein Appetit gesteigert. Die Barfußtherapie finde ich super, denn es nervt kolossal, Willi gegen seinen Willen ständig Socken und Schuhe anzuziehen. Zusätzlich muss man seltener Schuhe kaufen. Willis Fußsohlen bekommen eine tolle Stimulation, er kann sich gut spüren und ich habe etwas weniger Arbeit. Eine echte Win-win-Situation! Als Willis anthroposophische Kinderärztin mir später sagte, dass sie glaubte, bei Rudolf Steiner gelesen zu haben, dass Barfußlaufen nicht gut sei, habe ich das einfach ignoriert.

Es ist gar nicht selten, dass sich die Vorschläge der verschiedenen Therapeuten gegenseitig ausschließen. Während Willis Castillo-Morales-Fachfrau immer sehr viel Wert darauf legte, dass man an Willis Mund niemals wischen, sondern immer nur tupfen dürfe (weiß nicht mehr warum), propagierte seine Logopädin, kräftig zu wischen, um einen starken Reiz zu setzen. Im Endeffekt wehrt Willi bis heute beides wütend ab und ich denke, dass es dann vielleicht ohnehin egal ist, wie man’s macht, Hauptsache, wir haben nicht so viel Stress damit.

Ich sehe es als großes Problem, dass jede Fachrichtung für sich allein arbeitet und selten die Belastungen sieht, unter der eine Familie mit einem behinderten Kind in vielerlei Hinsicht leidet. Im Nachhinein macht es mich fast wütend, wenn ich bedenke, welche Dinge ich mit Willi schon im Kleinkindalter üben sollte, die er zum Teil jetzt in seinem neunten Jahr noch nicht kann. Der arme Junge war ein Jahr alt und hatte einen epileptischen Anfall nach dem anderen und ich sollte das Pusten und Saugen mit ihm üben! Ich war so ratlos und verzweifelt damals! Willi wusste mit diesen Gegenständen, die ich ihm ständig in den Mund steckte, überhaupt nichts anzufangen. Es war viel, viel zu früh für diese Aufgaben und ich habe ständig das Gefühl gehabt zu versagen – und letztendlich muss ja auch Willi dauerhaft dieses Gefühl gehabt haben. 

Erst vor kurzem hat Willi das Pusten gelernt (mit seinem Geburtstagskuchen, nicht mit Therapiematerial!) und wir haben das frenetisch gefeiert. Wenn ich ihn aber zum Saugen am Strohhalm motivieren will, weiß er noch immer nicht, was ich von ihm will, und er wirft frustriert den Becher um.

Wenn ich bedenke, wie viele Gewissensbisse ich hatte, weil ich nicht (wie von der Logopädin damals von mir verlangt) mit Willi schon im Alter von sechs Monaten angefangen habe, „Babyzeichen“ zu machen! Ich wusste damals, dass es zu früh war, aber trotzdem lastete die ganze Zeit das Gefühl auf mir, ich machte nicht genug. Übrigens war Willi erst mit drei Jahren bereit für seine erste Gebärde! 

Wie viel Mühe und Sorge hätten mir erspart bleiben können, wenn ich mich nicht hätte verrückt machen lassen!

Mein Lieblingsschwachsinn in Sachen Therapie kam von Willis hoch anthroposophischer „Therapeutischen Sprachgestalterin“ (das Wort alleine schon!). Als ich einmal – getrieben von meinem schlechten Gewissen – bei einer Sitzung dabei war, um mir ein paar Anregungen für uns zu Hause mitzunehmen, beobachtete ich, wie sie mit Willi ausgiebig (so weit bei Willi eben möglich) mit einer Babuschka-Puppe das Auf-Zu-Rein-Raus-Spiel spielte. Sie sprach dabei immer wieder die Worte „Komm heRRRein“ und „komm heRRRRaus“ in geradezu beängstigender Deutlichkeit aus. Wenn sie ein Püppchen öffnete, sagte sie „auFFFFFFFFFFF“ und pustete Willi dabei ins Gesicht. Die Sache leuchtete mir ein, denn so machte sie den Buchstaben „F“ für Willi quasi fühlbar. Wenn sie die Puppe schloss, sagte sie „zuuuBBB“. Ich erkundigte mich, welche Bedeutung wohl das „B“ haben möge in einem Wort, in dem es ja gar nicht vorkomme. Sie antwortete etwas empört, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: „B ist doch ein einhüllender, abschließender Laut!“

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Willi besser sprechen lernt, wenn er beim Stapeln von Babuschka-Puppen einen, nicht in das Wort gehörenden, einhüllenden Laut gesagt bekommt und mir war so etwas auch schon langsam ganz egal geworden. Ich puste Willi seither immer wieder einmal gerne ein „FFF“ ins Gesicht, wenn er mir eine Dose bringt, die ich „aufFFFFF“ machen soll – aber nur deshalb, weil Willi darüber so schön lachen kann. Und das einhüllende „B“ wird bei uns zu Hause lediglich dazu genutzt, dass mein Mann und ich uns darüber prächtig amüsieren können, wie bescheuert so manche Therapie ist. Da die Kasse sich weigerte, die Sprachgestalterin weiter zu bezahlen, hatte sich die Sache ohnehin bald geklärt – 45 Euro für 30 Minuten „Komm heRRRein – komm-herRRRaus“ waren uns zu teuer (und mein schlechtes Gewissen deswegen hielt sich auch in Grenzen). Die mir als heilbringend angepriesene Thomatis-Therapie (und einiges andere aus dem pseudowissenschaftlichen Spektrum) ließen wir dann, schon fast ohne schlechtes Gewissen, ganz weg.

Seit Willi in die Schule geht, läuft fast die ganze Therapie dort und zum Glück wird nur sehr selten an mein Pflichtbewusstsein als gute Behindertenmutter appelliert. Ich glaube nicht, dass mein Mann überhaupt weiß, dass Willi noch Therapien bekommt. Er hat das Thema Förderung mittlerweile abschließend verdrängt und nur beim Thema Gebärden nörgle ich manchmal noch etwas an ihm herum. Ich habe lange das Gefühl gehabt, die Therapie, die wir am nötigsten gebraucht hätten, wäre ohnehin eine Paartherapie gewesen. Aber wie gesagt: Mein Mann verdrängt ja Therapiebedarf gekonnt – auch den eigenen. Wir müssen wohl nicht nur lernen, Willi so zu nehmen, wie er ist, sondern auch uns gegenseitig.

Ich bin zum Glück schon lange von der Idee geheilt, aus meinem Sohn den Supermongo machen zu wollen. Willi ist einfach Willi, ein geistig schwer behinderter, verhaltensorigineller, leider nicht-sprechender Junge. Und das kommt sicher nicht daher, dass ich nicht Padovan mit ihm gemacht habe!

Ob ich selbst durch meinen Therapiedruck Schuld an Willis oft sehr abweisendem Verhalten bin, kann ich nicht sagen (aber meine Bereitschaft für Schuldgefühle legt es mir natürlich nahe) – genauso wenig, wie ich sagen könnte, ob oder wie viel die ganzen Therapien überhaupt etwas bringen. Ich weiß nur ganz sicher, dass ich es endgültig satt habe, nicht einfach Mama zu sein, sondern ständig etwas von meinem Sohn zu wollen und andauernd an ihm herumzunesteln. Ganz allein die Erziehung meiner Kinder reicht vollkommen als Konfrontationspotenzial – mehr schaffe ich nicht. 

Auch wenn das hier vielleicht nicht so klingt: Ich habe vieles von unseren Therapeutinnen und Therapeuten gelernt. Je mehr ich über Frühförderung weiß, desto klarer wird mir, dass in unserem normalen, ungezwungenen Spiel mit Kindern fast alles von dem vorhanden ist, was sie brauchen – ob behindert oder nicht. Man muss doch kein Buch über Sprachförderung lesen, um zu wissen, dass für Kinder Reime, Fingerspiele und Lieder eine wichtige Sache sind. 

Und in erster Linie braucht Willi, wie alle anderen Kinder, die Liebe seiner Eltern und das Gefühl, gut und richtig zu sein, so wie er ist. Und das tut mir am meisten leid – nicht, dass Willi nicht bei „Deutschland sucht den Superdownie“ mitmachen kann –, sondern dass ich meinem Kind vielleicht das Gefühl gegeben habe, meine Erwartungen nicht zu erfüllen. Natürlich wünsche ich mir auch heute noch, dass mein Kind dazu lernt, aber alles nur nach seinen Möglichkeiten. Und Förderung immer nur, wenn es ihm Spaß bringt. Nur mit dem Talker (Sprachcomputer) und den Gebärden gehe ich Willi noch manchmal etwas auf die Nerven. Und mein schlechtes Gewissen? Meine Möglichkeiten zu lernen, sind ja auch begrenzt, deswegen habe ich es immer noch – ein bisschen …

Dieser Text ist erstmal in der Zeitschrift „Behinderte Menschen – Zeitschrift für gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten 1/2016“ erschienen. Weitere tolle Texte von Birte findet ihr unter www.illuland.de und in ihren Büchern